Kinder brauchen Grenzen, Regeln und Konsequenz - wirklich?
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Regeln und Grenzen geben Kindern Sicherheit, Struktur und Klarheit. Sie bieten Orientierung und die Kinder wissen dann, woran sie sind. Konsequenz muss sein, damit Kinder einen als Autorität akzeptieren.
Außerdem lernen Kinder dadurch lauter wichtige Dinge, wie sich in eine Gemeinschaft einzufügen, Rücksicht zu nehmen, dass sie nicht immer im Mittelpunkt stehen und sich auch mal einer Autorität zu beugen. Das brauchen sie später auch unbedingt, so ist nunmal die "reale" Welt wie z. B. Schule und später das Arbeitsleben.
So habe ich es auch einmal gelernt und lange daran geglaubt. Aber stimmt das wirklich?
Tut es Kindern so gut, wenn es um sie herum lauter von Erwachsenen errichtete Grenzen gibt, die sie nicht überschreiten dürfen? Unverrückbare Regeln, die von irgendwo aufgestellt wurden, oftmals speziell nur für sie, weil sie eben Kinder sind? Und es "klare Konsequenzen" regnet, sobald die Kinder sich anders als gewünscht verhalten?
Es ist richtig, dass Kindern Klarheit, Struktur und Vorhersehbarkeit hilft, Orientierung und Sicherheit zu finden. Und dass wir Menschen in Gemeinschaften leben und es dafür Fähigkeiten wie Rücksichtnahme, Sich-einfügen-Können, Anderen vertrauen und folgen, eigene Bedürfnisse aufschieben braucht.
Gemeinschaften brauchen aber auch Eigeninitiative, Kommunikationsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Ideenreichtum, Gestaltungswillen...
Und Orientierung und Vorhersehbarkeit bekommen Kinder auch durch einen immer ähnlichen Tagesablauf, gut gestaltete Übergänge und Rituale.
Grenzen bringen auf natürliche Weise vor allem die physische Umwelt mit sich, die sich vom Kind nicht immer genau so gestalten lässt, wie es das möchte und Widerstand bietet und außerdem die Mitmenschen mit ihren jeweils eigenen Bedürfnissen. Das sind Grenzen, die natürlich entstehen und verständlich und erlebbar sind.
Sicherheit kommt als allererstes durch Bindung zustande und diese wiederum, das wissen wir aus der Bindungsforschung, entsteht vor allem durch eine feinfühlige Bezugsperson. Einen Erwachsenen also, der nicht vor allem starr "konsequent" ist, sondern besonders gut und angemessen auf die Bedürfnisse und Befindlichkeiten des Kindes eingehen kann.
Es ist also "erlaubt", authentisch, das heißt auch mal "inkonsequent" zu sein. Man kann sich auch als Erwachsener täuschen, man kann Fehleinschätzungen machen, man kann auch heute etwas mitmachen, was einem morgen zu anstrengend ist und man kann sich überreden lassen, nachgeben, Kompromisse finden, sich mit den Kindern abstimmen, auf Augenhöhe einigen und sich sogar beim Kind entschuldigen. All das untergräbt nicht eine Autorität, sondern es zeigt souverän und authentisch, wie Menschen miteinander gemeinsame Wege finden und bietet ein Vorbild im Umgang mit sich selbst und Schwächeren.
Was bleibt also übrig von den früher als so unglaublich wichtig erachteten "klaren Regeln", den Grenzen und der Konsequenz?
Lasst uns doch das Wort "Regel" durch "Tradition" und vielleicht noch "Vereinbarung" ersetzen. Anstatt "Konsequenz" genügen authentische Reaktionen. Und Grenzen müssen nicht künstlich gesetzt werden im Sinne von "eingrenzen", die das Kind dann angeblich "austestet", sondern sie ergeben sich natürlicherweise durch Bedürfnisse der Mitmenschen und Notwendigkeiten und Gefahren im Alltag.
Was Kinder also brauchen, sind lebendige, offene und authentische Begegnungen. Daraus ergibt sich der Rest ganz von alleine.