Die trockene Blume
Oder der Umgang mit Bedürfnissen
Wenn wir eine Zimmerpflanze sehen, die ihre Blätter hängen lässt und deren Erde ganz trocken ist, werden wir uns beeilen, sie so bald wie möglich zu gießen. Denn wir erkennen das dringliche Bedürfnis dieser Blume und wollen, dass sie gut gedeiht und möglichst unbeeinträchtigt wachsen kann. Wir vertrauen darauf, dass es richtig ist, ihr das zu geben, was sie braucht.
Wenn ein dreijähriges Kind auf den Arm will, oder nicht im eigenen Bett schlafen will, oder nicht alleine bei Oma bleiben möchte, ja selbst bei einem Säugling, der sich nicht ablegen lassen möchte und jedes Mal zu weinen anfängt, kann es passieren, dass wir zunächst zögern und zweifeln. Wie sehr, hängt häufig von unserer eigenen Kindheit ab. Wir haben Bedenken:
Was, wenn es das nie lernt?
Das Kind wird verwöhnt!
Es wird sich daran gewöhnen, und es dann immer einfordern.
Es wird so ja nie selbstständig und unabhängig werden!
Was für eine Unverschämtheit von dem Kind, das muss es jetzt mal lernen, dass es nicht immer alles bekommt!
Darf ich ihm jetzt einfach ohne irgendwelche Bedenken sein momentanes Bedürfnis erfüllen??
Zurück bei unserer Blume. Hier erscheinen solche Gedanken absurd:
So wird sie sich bestimmt daran gewöhnen, dass sie immer gleich gegossen wird, wenn sie trocken ist und wird das dann immer so wollen. Sie wird so nie unabhängig und widerstandsfähig werden. Sie muss auch mal lernen, dass es jetzt kein Wasser gibt. Verwöhne ich sie??
Von einer Blume erwarten wir nur, dass sie ihrem Wesen gemäß wächst und gedeiht, aus sich selbst heraus. Uns ist auch gleichzeitig klar, dass sie als Zimmerpflanze immer auf uns angewiesen sein wird. Deshalb fällt es uns hier vielleicht leichter, unmittelbar und angemessen auf Bedürfnisse zu reagieren.
Bei unseren Kindern haben wir Sorge, dass sie sich eben NICHT so entwickeln werden, wie sie sollen, wenn wir auf ihre Bedürfnisse eingehen. Das ist doch ein interessantes Phänomen, oder?
Natürlich kann man mit zunehmendem Alter der Kinder unterscheiden zwischen Wunsch, Gewohnheit und Bedürfnis, natürlich müssen und werden Kinder nach und nach lernen zu warten, lernen Rücksicht zu nehmen, auch auf die Bedürfnisse anderer zu achten. Aber das sind Entwicklungsschritte, die aus sich heraus passieren, so wie zum Beispiel das Laufen lernen, wenn die Bedingungen stimmen und Vorbilder da sind.
Es würde unser aller Leben leichter machen, wenn wir Bedürfnisse wahrnehmen und anerkennen würden und keine Angst hätten, dass etwas Schlimmes passiert oder gar Entwicklung verhindert wird, wenn wir sie erfüllen.
Denken wir doch an die Blume, die kann sich nur dadurch gut entwickeln, dass sie bekommt, was sie braucht.
Bei uns Menschen ist es nicht anders. Gestillte Bedürfnisse sorgen für Sattheit und Kraft und verschwinden, wenn sie nicht mehr für unsere Entwicklung relevant sind.